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Thomas Mann

Der Tod in Venedig

Die Texte folgen den Ausgaben:

>Der Tod in Venedig< aus

München, Hyperionverlag Hans von Weber 1912

Erstes Kapitel

Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigstenGeburtstag amtlich sein Name lautete, hatte an einemFrühlingsnachmittag des Jahres 19.., das unserem Kontinent monatelangeine so gefahrdrohende Miene zeigte, von seiner Wohnung in derPrinz-Regentenstraße zu München aus, allein einen weiteren Spaziergangunternommen. Überreizt von der schwierigen und gefährlichen, ebenjetzt eine höchste Behutsamkeit, Umsicht, Eindringlichkeit undGenauigkeit des Willens erfordernden Arbeit der Vormittagsstunden,hatte der Schriftsteller dem Fortschwingen des produzierendenTriebwerks in seinem Innern, jenem »motus animi continuus«, worinnach Cicero das Wesen der Beredsamkeit besteht, auch nach derMittagsmahlzeit nicht Einhalt zu tun vermocht und den entlastendenSchlummer nicht gefunden, der ihm, bei zunehmender Abnutzbarkeitseiner Kräfte, einmal untertags so nötig war. So hatte er bald nachdem Tee das Freie gesucht, in der Hoffnung, daß Luft und Bewegung ihnwieder herstellen und ihm zu einem ersprießlichen Abend verhelfenwürden.

Es war Anfang Mai und, nach naßkalten Wochen, ein falscher Hochsommereingefallen. Der Englische Garten, obgleich nur erst zart belaubt,war dumpfig wie im August und in der Nähe der Stadt voller Wagen undSpaziergänger gewesen. Beim Aumeister, wohin stillere und stillereWege ihn geführt, hatte Aschenbach eine kleine Weile den volkstümlichbelebten Wirtsgarten überblickt, an dessen Rande einige Droschken undEquipagen hielten, hatte von dort bei sinkender Sonne seinen Heimwegaußerhalb des Parks über die offene Flur genommen und erwartete, da ersich müde fühlte und über Föhring Gewitter drohte, am NördlichenFriedhof die Tram, die ihn in gerader Linie zur Stadt zurückbringensollte. Zufällig fand er den Halteplatz und seine Umgebung vonMenschen leer. Weder auf der gepflasterten Ungererstraße, derenSchienengeleise sich einsam gleißend gegen Schwabing erstreckten,noch auf der Föhringer Chaussee war ein Fuhrwerk zu sehen;hinter den Zäunen der Steinmetzereien, wo zu Kauf stehende Kreuze,Gedächtnistafeln und Monumente ein zweites, unbehaustes Gräberfeldbilden, regte sich nichts, und das byzantinische Bauwerk derAussegnungshalle gegenüber lag schweigend im Abglanz des scheidendenTages. Ihre Stirnseite, mit griechischen Kreuzen und hieratischenSchildereien in lichten Farben geschmückt, weist überdies symmetrischangeordnete Inschriften in Goldlettern auf, ausgewählte, dasjenseitige Leben betreffende Schriftworte wie etwa: »Sie gehen ein indie Wohnung Gottes« oder: »Das ewige Licht leuchte ihnen«; und derWartende hatte während einiger Minuten eine ernste Zerstreuung daringefunden, die Formeln abzulesen und sein geistiges Auge in ihrerdurchscheinenden Mystik sich verlieren zu lassen, als er, aus seinenTräumereien zurückkehrend, im Portikus, oberhalb der beidenapokalyptischen Tiere, welche die Freitreppe bewachen, einen Mannbemerkte, dessen nicht ganz gewöhnliche Erscheinung seinen Gedankeneine völlig andere Richtung gab.

Ob er nun aus dem Innern der Halle durch das bronzene Torhervorgetreten oder von außen unversehens heran und hinauf gelangtwar, blieb ungewiß. Aschenbach, ohne sich sonderlich in die Frage zuvertiefen, neigte zur ersteren Annahme. Mäßig hochgewachsen, mager,bartlos und auffallend stumpfnäsig, gehörte der Mann zum rothaarigenTyp und besaß dessen milchige und sommersprossige Haut. Offenbar warer

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