Hermann Hesse
Gesammelte Werke

Kurgast

Aufzeichnungen
von einer Badener Kur

von
Hermann Hesse

S. Fischer / Verlag / Berlin

11. bis 14. Auflage 1925 / Alle Rechte vorbehalten
Druckleitung und Einbandentwurf: E. R. Weiß
Copyright 1925 by S. Fischer Verlag A.-G., Berlin

Den Brüdern
Josef und Franz Xaver Markwalder
gewidmet

Vorrede

Motto:

Müßiggang ist aller Psychologie Anfang.

Nietzsche

Man sagt von den Schwaben, daß sie erst mit vierzigJahren gescheit werden, und die Schwaben selber, imSelbstvertrauen nicht stark, sehen das zuweilen als eineArt von Schande an. Es ist aber das Gegenteil, es isteine große Ehre, denn die vom Sprichwort gemeinteGescheitheit (sie ist nichts anderes als das, was jungeLeute auch „Altersweisheit“ nennen, das Wissen um diegroßen Antinomien, um das Geheimnis des Kreislaufsund der Bipolarität) dürfte auch unter den Schwaben,so begabt sie sind, sich recht selten schon bei Vierzigjährigenfinden. Wenn man dagegen über die Mitte derVierzig hinweg ist, man sei begabt oder nicht, dann stelltsich jene Weisheit oder Mentalität des Alterns ganz vonselber ein, namentlich wenn noch das anhebende leiblicheAltern mit allerlei Mahnungen und Beschwerdennachhilft. Zu den häufigsten dieser Beschwerden nungehören Gicht, Rheumatismen und Ischias, und ebendiese Leiden sind es, welche uns Badegäste hierher nachBaden führen. Das Milieu ist also jener Art von Mentalität,in welche auch ich jetzt eingetreten bin, überausgünstig, und man gerät, so scheint mir, hier ganz vonselber, vom genius loci geleitet, in eine gewisse skeptischeFrömmigkeit, einfältige Weisheit, in eine sehr differenzierteVereinfachungskunst, einen sehr intelligenten Anti-Intellektualismushinein, der ebenso wie die Wärmeder Bäder und der Geruch des Schwefelwassers als einSpezifikum mit zu Baden gehört. Oder, kürzer gesagt:Wir Kurgäste und Gichtiker sind ganz besonders daraufangewiesen, das eckige Leben so rund wie möglich zunehmen, fünfe gerade sein zu lassen, uns keine großenIllusionen zu machen, aber dafür hundert kleine sanfteIllusionen zu schonen und zu pflegen. Wir Kurgäste inBaden haben, wenn ich nicht irre, jenes Wissen um dieAntinomien besonders nötig, und je steifer unsre Gebeinewerden, desto dringender bedürfen wir einer elastischen,zweiseitigen, bipolaren Denkart. Unsre Leidensind Leiden, aber sie sind nicht von jener heroischen unddekorativen Art von Leiden, welche der Leidende ohneEinbuße an unsrer Achtung für weltwichtig nehmen darf.

Wenn ich so rede, wenn ich meine persönliche Alters-und Ischiatiker-Denkart zu einem Typus, zu einer allgemeinenNorm erhebe, wenn ich so tue, als spräche ichhier nicht einzig in meinem Namen, sondern im Nameneiner ganzen Menschenklasse und Altersstufe, so ist mirdabei, wenigstens für Augenblicke, wohl bewußt, daßd

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