S. Fischer, Verlag, Berlin
1911
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Meinem Freund Ludwig Finckh
Peter Camenzind
Im Anfang war der Mythus. Wie der großeGott in den Seelen der Inder, Griechen undGermanen dichtete und nach Ausdruck rang, sodichtet er in jedes Kindes Seele täglich wieder.
Wie der See und die Berge und die Bächemeiner Heimat hießen, wußte ich noch nicht. Aberich sah die blaugrüne glatte Seebreite, mit kleinenLichtern durchwirkt, in der Sonne liegen und imdichten Kranz um sie die jähen Berge, und inihren höchsten Ritzen die blanken Schneeschartenund kleinen, winzigen Wasserfälle, und an ihremFuß die schrägen, lichten Matten, mit Obstbäumen,Hütten und grauen Alpkühen besetzt. Und dameine arme, kleine Seele so leer und still undwartend lag, schrieben die Geister des Sees undder Berge ihre schönen kühnen Taten auf sie.Die starren Wände und Flühen sprachen trotzigund ehrfürchtig von Zeiten, deren Söhne sie sindund deren Wundmale sie tragen. Sie sprachenvon damals, da die Erde barst und sich bog undaus ihrem gequälten Leibe in stöhnender WerdenotGipfel und Grate hervortrieb. Felsbergedrängten sich brüllend und krachend empor, bis sieziellos vergipfelnd knickten, Zwillingsberge rangenin verzweifelter Not um Raum, bis einer siegteund stieg und den Bruder beiseite warf undzerbrach. Noch immer hingen von jenen Zeitenher da und dort hoch in den Schlüften abgebrocheneGipfel, weggedrängte und gespalteneFelsen, und in jeder Schneeschmelze führte derWassersturz hausgroße Blöcke nieder, zersplittertesie wie Glas oder rannte sie mit mächtigemSchlage tief in weiche Matten ein.
Sie sagten immer dasselbe, diese Felsberge.Und es war leicht sie zu verstehen, wenn manihre jähen Wände sah, Schicht um Schicht geknickt,verbogen, geborsten, jede voll von klaffendenWunden. „Wir haben Schauerliches gelitten,“sagten sie, „und wir leiden noch.“ Aber siesagten es stolz, streng und verbissen, wie alte unverwüstlicheKriegsleute.
Jawohl, Kriegsleute. Ich sah sie kämpfen,mit Wasser und Sturm, in den schauerlichen Vorfrühlingsnächten,wenn der erbitterte Föhn umihre alten Häupter brüllte und wenn die Bachstürzefrische, rohe Stücke aus ihren Flanken rissen.Sie standen mit trotzig gestemmten Wurzeln indiesen Nächten, finster, atemlos und verbissen,streckten dem Sturm die zerspaltenen Wetterwändeund Hörner entgegen und spannten alle Kraft introtzig geduckter Sammlung zusammen. Und beijeder Wunde ließen sie das grausige Rollen derWut und Angst vernehmen, und durch alle fernstenRüfenen klang gebrochen und zornig ihr schrecklichesStöhnen wieder.
Und ich sah Matten und Hänge und erdi