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24. bis 28. Tausend
Von
Rainer Maria Rilke
1921
Im Insel-Verlag zu Leipzig
MEINE FREUNDIN, EINMAL HABE ICH DIESESBUCH IN IHRE HÄNDE GELEGT, UND SIEHABEN ES LIEB GEHABT WIE NIEMAND VORHER.SO HABE ICH MICH DARAN GEWÖHNT,ZU DENKEN, DASS ES IHNEN GEHÖRT. DULDENSIE DESHALB, DASS ICH NICHT ALLEININ IHR EIGENES BUCH, SONDERN IN ALLEBÜCHER DIESER NEUEN AUSGABE IHRENNAMEN SCHREIBE; DASS ICH SCHREIBE:
DIE GESCHICHTEN VOM LIEBEN GOTT
GEHÖREN ELLEN KEY.
RAINER MARIA RILKE
ROM, IM APRIL 1904.
Neulich, am Morgen, begegnete mir die FrauNachbarin. Wir begrüßten uns.
»Was für ein Herbst!« sagte sie nach einerPause und blickte nach dem Himmel auf. Ichtat desgleichen. Der Morgen war allerdingssehr klar und köstlich für Oktober. Plötzlichfiel mir etwas ein: »Was für ein Herbst!« riefich und schwenkte ein wenig mit den Händen.Und die Frau Nachbarin nickte beifällig. Ichsah ihr so einen Augenblick zu. Ihr gutes gesundesGesicht ging so lieb auf und nieder. Eswar recht hell, nur um die Lippen und an denSchläfen waren kleine schattige Falten. Wohersie das haben mag? Und da fragte ich ganz unversehens:»Und Ihre kleinen Mädchen?« DieFalten in ihrem Gesicht verschwanden eineSekunde, zogen sich aber gleich, noch dunkler,zusammen. »Gesund sind sie, Gott sei Dank,aber –«; die Frau Nachbarin setzte sich in Bewegung,und ich schritt jetzt an ihrer Linken,wie es sich gehört. »Wissen Sie, sie sind jetztbeide in dem Alter, die Kinder, wo sie den ganzen Tag fragen. Was, den ganzen Tag, bis in diegerechte Nacht hinein.« »Ja,« murmelte ich, –»es gibt eine Zeit …« Sie aber ließ sich nichtstören: »Und nicht etwa: Wohin geht diesePferdebahn? Wieviel Sterne gibt es? Und istzehntausend mehr als viel? Noch ganz andereSachen! Zum Beispiel: Spricht der liebe Gottauch chinesisch? und: Wie sieht der liebe Gottaus? Immer alles vom lieben Gott! Darüberweiß man doch nicht Bescheid –.« »Nein, allerdings,«stimmte ich bei, »man hat da gewisseVermutungen …« »Oder von den Händen vomlieben Gott, was soll man da –«
Ich schaute der Nachbarin in die Augen: »ErlaubenSie,« sagte ich recht höflich, »Sie sagtenzuletzt die Hände vom lieben Gott – nichtwahr?« Die Nachbarin nickte. Ich glaube, siewar ein wenig erstaunt. »Ja« – beeilte ich michanzufügen, – »von den Händen ist mir allerdingseiniges bekannt. Zufällig« – bemerkte ichrasch, als ich ihre Augen rund werden sah –»ganz zufällig – ich habe – – – nun,« schloß...