Romain Rolland
Clerambault
Geschichte eines freien Gewissens
im Kriege
1922
Literarische Anstalt
Rütten & Loening
Frankfurt a. M.
Berechtigte Übertragung aus dem
Französischen von Stefan Zweig
Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig
Dieses Werk ist kein Roman, sondern das Bekenntniseiner freien Seele inmitten der Qual, die Geschichteihrer Irrungen, Ängste und Kämpfe. Man möge keineSelbstschilderung darin erblicken — werde ich eines Tagesüber mich selbst schreiben wollen, so wird es ohne Decknamenund Maske geschehen. Einige meiner Anschauungen habe ichallerdings in meinem Helden zum Ausdruck gebracht, dochsein Wesen, sein Charakter und seine Lebensumstände gehörenihm ganz allein zu. Ich wollte in diesem Werke dasinnere Labyrinth schildern, das eine schwache, unentschiedene,erregbare und verführbare, aber doch aufrichtige und inihrem Wahrheitswillen leidenschaftliche Natur langsam vorwärtstastenddurchirrt.
In einigen Kapiteln deutet das Werk auf die Art der „Meditationen“unserer altfranzösischen Moralisten, der stoischenEssays zu Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts zurück.In jenen Zeiten, die den unsern glichen, ja sie sogar an tragischemGrauen noch übertrafen, schrieb inmitten der Kämpfeder Liga der erste Präsident Guillaume du Vair mit unerschütterlicherSeele seine erhabenen Dialoge „Über dieStandhaftigkeit und die Tröstung im allgemeinen Mißgeschick“.Während die Belagerung von Paris ihren Höhepunkterreicht hatte, hielt er in seinem Garten Zwiesprachemit seinen Freunden Linus, dem Weitgereisten, mit Musée,dem ersten Rektor der medizinischen Fakultät, und demSchriftsteller Orphée. Und den Blick noch erfüllt von dentragischen Bildern, die sie auf der Gasse gesehen — armeMenschen, die vor Hunger gestorben waren, Frauen, dieschrien: die Landsknechte verzehrten im Temple ihre Kinder— versuchten sie ihren bedrückten Geist zu jenen Höhen zuerheben, von denen man die geistige Welt der Jahrhunderteumfängt und das Überdauernde jeder Prüfung sieht. Alsich in den Kriegsjahren jene Dialoge überlas, fühlte ich michmehr als einmal diesem guten Franzosen nahe, der schrieb:„Es heißt ein Unrecht an dem Menschen begehen, der geschaffenist, alles zu sehen und alles zu erkennen, wenn manihn an eine einzelne Stelle der Erde bindet. Jedes StückErde ist Land für den Vernünftigen... Gott hat uns dieErde gegeben, daß wir sie alle in Gemeinschaft genießen,freilich mit der Pflicht, anständige Menschen zu bleiben...“
R. R.
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