Die Kräftigung des räumlichen Vorstellungsvermögens und der räumlichenGestaltungskraft gehört unbestritten zu den wichtigsten Zielen eines jeden geometrischenUnterrichts. Um sie zu erreichen, ist für den Lehrenden wie für den Lernenden — vonModellen abgesehen — die Kunst guter zeichnerischer Darstellung unentbehrlich. Soselbstverständlich dies auch erscheinen mag, haben doch die mannigfachen Bemühungender Hochschullehrer, den Studierenden die leichte Ausübung dieser Kunst zuvermitteln, noch keineswegs vollen und allgemeinen Erfolg gehabt. Sicherlichmuß der mathematische Unterricht an den höheren Schulen darunter leiden.Ich habe den Wunsch, durch meine Schrift an der Beseitigung dieses Mangelsmitzuhelfen.
Das Gebiet der wissenschaftlichen darstellenden Geometrie hat allmählich eine sogroße Ausdehnung erfahren, daß jede Behandlung des Stoffes sich auf eine Auswahl zubeschränken hat. Sie kann für den Vertreter des höheren Lehrfachs eine andere sein alsfür den Techniker und Architekten. Diese Erwägung ist für die Abfassung dieser Schriftmaßgebend gewesen; ihr Inhalt ist bereits mehrfach in Vorlesungen und Übungen von mirnicht ohne Nutzen behandelt worden. Es erschien mir zweckmäßig die Auswahl so zutreffen, daß sie so knapp wie möglich ausfiel, und doch alles berücksichtigt, was fürdas zu erreichende Ziel notwendig ist. Vor allem war es mein Streben, michnur der allerelementarsten Mittel zu bedienen und doch in dem Leser nebender Kenntnis der Methoden die volle Überzeugung von ihrer Richtigkeit zuerwecken. Ich hoffe, daß sie jeder, der über die einfachsten geometrischen undstereometrischen Sätze verfügt, mit Nutzen und ohne erhebliche Mühe lesenkann.
Es gab eine Zeit, in der man an die Spitze geometrischer Bücher den AusspruchSteiners setzte „stereometrische Betrachtungen seien nur dann richtig aufgefaßt, wenn sierein, ohne alle Versinnlichungsmittel, durch die innere Vorstellung angeschaut werden“.Befinden wir uns mit unseren heutigen Bestrebungen etwa in direktem Gegensatz zudieser Sentenz?—Ich glaube dies verneinen zu dürfen. Die Kräftigung des räumlichenVorstellungsvermögens ist auch in ihr mittelbar als Haupterfordernis enthalten, und alsletztes und höchstes Ziel geometrischer Ausbildung und Denkweise kann die SteinerscheForderung auch heute noch bestehen bleiben. Die Frage ist nur, wie wir uns dem in ihrgesteckten Ziel am besten annähern können. Ein Steiner, der als sechsjähriger Knabeauf die Bemerkung des Lehrers, daß drei Ebenen eine Ecke bestimmen, sofortausrief: „es gibt ja acht“, mochte allerdings Figuren und Modelle entbehrenkönnen; die glänzende räumliche Intuition, die er besaß, gab ihm einen Ersatzdafür. Aber für das Genie gelten besondere Regeln. Wir andern müssen uns aufandere Weise helfen und sollen füglich jedes wissenschaftliche Hilfsmittel erfassenund benutzen, das uns zu nützen vermag. Je besser es gelingt, kompliziertereräumliche Gebilde durch richtig konstruierte und