Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von1917 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. TypographischeFehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heutenicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Originalunverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.
Die Fußnoten wurden an das Ende des Texts verschoben.
Von
Karl Scheffler
Mit 107 Abbildungen
Im Insel-Verlag zu Leipzig
1917
[S. 5]
Die Gedanken, die auf den folgenden Seiten ausgesprochen sind, habenmich zwei Jahrzehnte lang beschäftigt. In vielen meiner Arbeiten sindsie schon erörtert worden, ja, wer sich die Mühe gibt, danach zusuchen, findet sie in meiner ganzen Kunstauffassung. Ich habe michentschlossen, sie mehr systematisch nun zusammenzufassen, weil dieZeit dafür günstig scheint. In den letzten Jahren haben einige unsererbesten Kunsttheoretiker verwandte Anschauungen vertreten und sie —jeder in seiner Weise — zu Werkzeugen der Forschung gemacht. Undes mehren sich die Anzeichen, daß in der Kunstbetrachtung überhauptein grundsätzlicher Wandel vor sich geht. Wenn mehrere gute Köpfegleichzeitig auf dieselbe Idee verfallen, so ist damit bewiesen, daßes sich nicht um subjektive Spekulationen handelt, sondern um eineobjektive Erkenntnis. Es mag darum nützlich sein, das Problem einmal inseinem ganzen Umfang wenigstens anzudeuten.
Zu der Wichtigkeit, die ich dem Gedanken von der Polarität derKunst beimesse, steht das Volumen dieses Buches freilich in keinemVerhältnis. Ich benutze die Gelegenheit, das Bekenntnis abzulegen,daß ich dieser Arbeit über den „Geist der Gotik“ gern viele Jahremeines Lebens gewidmet hätte, daß ich sie am liebsten erweitern möchtezu einem umfangreichen, auf genauen Spezialforschungen und vielenReiseerlebnissen beruhenden, von einem reichen wissenschaftlichenAbbildungsmaterial erläuterten Werk. Die Erfüllung dieses Wunschesist mir[S. 6] dauernd versagt. Notgedrungen begnüge ich mich, das schöneProblem aphoristisch zu behandeln und intuitiv gewonnene Resultatevorzulegen, ohne sie im einzelnen auch empirisch zu beweisen. Ich binmir bewußt, daß dieses nicht eigentlich ein Buch ist, sondern nur etwaswie eine Einleitung zu dem Werk, das mir vorschwebt. Es ist nur eineDisposition; jeder kleine Abschnitt k