Gretchen Reinwald gibt der kleinen Ruth Holland französische Nachhilfstunde.
Eine Erzählung
für Mädchen von 13-16 Jahren.
Von
Agnes Sapper.
Dritte Auflage.
Stuttgart.
Verlag von D. Gundert.
Druck der Stuttgarter Vereinsbuchdruckerei.
„Heute beginnt also dein letztes Schuljahr?“ fragteHerr Reinwald seine Tochter, die eben zum Ausgang gerichtetins Zimmer trat.
„Ja, aber erst um neun Uhr,“ antwortete Gretchen undsetzte sich noch einmal zu den Eltern an den Frühstückstisch.„Ich bin eigentlich viel zu früh daran!“
„Du siehst ja ganz anders aus, als sich’s für ein Schulmädelgehört, hast keine Schürze an, keine Tafel in der Handund gehst in einem Schleppkleid!“
Gretchen und ihre Mutter lachten. „Das lange Kleidist dir noch ungewohnt an unserem Kind,“ sagte Frau Reinwald,„sie ist nun eben kein ‚Schulmädel‘ mehr, sonderneine Fortbildungsschülerin.“ „Ja, Vater, du mußt auchein wenig Respekt haben vor mir, ich bin fast schon sogroß wie die Mutter; bitte, Mutter, steh einmal auf, derVater glaubt es sonst nicht.“
Da standen sie nebeneinander, die Mutter zart undschmächtig, mit schlichtem, braunem Haar, die Tochter rosigund blühend, mit blonden, hoch aufgesteckten Zöpfen; undes war schwer zu sagen, welche von beiden größer war.Aber Herr Reinwald besann sich nicht. „Das beruht allesauf Täuschung,“ sagte er, „deine Zöpfe sind nur so prahlerischaufgebaut. Die Mutter ist doch größer, und sie bleibt’sauch.“ Da lachte Gretchen und rief: „Ich weiß schon,wie du’s meinst, Vater. Die Mutter bleibt freilich größer,“und mit stürmischer Zärtlichkeit umarmte sie die Mutter.Herr Reinwald verabschiedete sich nun, um seinem Berufnachzugehen, und auch Gretchen machte sich fertig.
„Rufe im Vorbeigehen Lene, daß sie das Frühstückabräume,“ sagte Frau Reinwald.
„Lene? Ja, wenn nur unsre gute Lene noch draußenwäre!“ antwortete Gretchen; „ich mag gar nicht mehr indie Küche, seitdem so ein fremdes Wesen darin haust!“
„Ich glaube es wohl, daß dir deine Lene fehlt, diebei uns war, solang du zurückdenken kannst; aber Franziskascheint mir auch ein tüchtiges Mädchen zu sein.“
„Ich schicke sie dir herein,“ sagte Gretchen, „und jetztleb wohl, Mutter.“
„Viel Glück zum letzten Schuljahr!“
„Danke, ich bin furchtbar neugierig, wie es in derOberklasse wird!“
Eilig ging nun Gretchen in den kühlen Herbstmorgenhinaus, der Schule zu. Ihr Weg führte sie durch lange,belebte Straßen. Schon seit ihrem ersten Schuljahr, indem Herr Reinwald als Regierungsrat in die Residenzversetzt worden war, besuchte Gretchen das Institut vonFräulein von Zimmern. Von Klasse zu Klasse war sieaufgestiegen, und nun stand sie vor der