Transcriber's Note: Source:Die Entfaltung, Max Krell (Ed.), Ernst Rowohlt Verlag, Berlin, 1921, pp. 200-223.

Ernst Weiß

Die Verdorrten

I.

Edgar und Esther kannten einander viele Jahre, bevorsie einander liebten. Sie änderte sich in diesen Jahren nichtviel: groß, blond, die Haare schwer um den schmalen Kopf,schiefgestellt die blauen Augen, ihr Mund groß oder klein,weich oder hart, kindlich oder verbittert, wie sie eben lebte,an Regentagen war er anders als an starken, sonnigen.

Er liebte an ihr den spitzigen gotischen Bogen ihresKinnes, ihr Gesicht konnte er dann zwischen zwei Fingernehmen, leise hin und her bewegen, und es strömte wieLicht ohne Grenzen. Für Augenblicke wurde sie, war sie:wovon er träumte: ein Wesen ohne Wissen, ein Etwas, umschwungenvon ewiger Sommerzeit, schwimmend inDuft wie in einer eigenen Welt! Ein Stern, allem Bekanntenunbekannt, entfernt von Tier, von Pflanze, eine starkeGewalt, beide Hände triefend voll mit Wollust, etwas tiefeszum hineinversinken, dem Schlafe gleich und dem Tod,dem ersehnten, dem gefürchteten.

Das war sie nicht. Sie war ein Mensch aus bürgerlichenKreisen, ein Herz, noch unberührt, in ihrer Blüte ein jungesMädchen. In ihrer Blöße eine zitternde Braut, das hatteEsther zu geben, das gab sie ihm.

II.

Er wollte sie besitzen, immer zu ihr zurückkehren können.Aber auf die Dauer konnte er mit ihr nicht leben.Er konnte überhaupt nicht dauernd mit Menschen Wandan Wand, Mund an Mund, Brust an Brust leben. Es beengteihn bis zur Angst des Erstickens: er haßte, er verfluchte,stampfte in die Erde Vater, Mutter. Die Samtmöbelim Zimmer, die Geliebte, den Hauch ihres Atems, denetwas vergilbten Einsatz ihres Hemdes, ihr Haar, das eram Tage nachher in seinem Kamm fand oder auf demGrunde seines Waschbeckens, alles reizte ihn zum Erbrechen,als ziehe es sich durch seinen Hals die Kehleherab! Wie als Kind trieb er sich viel herum auf steinigenBergen, sprach zu sich, sang stundenlang zu dem Takteseiner Schritte, zu dem Stampfen der Lokomotiven, zu demSurren der Zentrifuge in seinem Laboratorium, während erumherging.

Er liebte die Freiheit über alle Worte, aber er liebteauch die Menschen, und zwischen beiden schwankte er. Wardie Geliebte verreist, dachte er an sie in allerinnigster Sehnsucht,schwoll an mit der schwersten Qual des gierigenGeschlechts. Wieder sah er, und die Wehmut jugendlicherTage kam nie mehr, die rauschende Halle des Fernbahnhofes,Eisen und gebräuntes Glas, die überstickte Schwüledes Wartesaales, in Wehmut preßte sich der kleine Hügelihrer unbewehrten Brust an seine Schulter beim Abschieddes Abends, feucht und schwer machte der sich verdichtendeNebel ihr sanft fallendes Haar, rührend rauschte esan seinen Lippen vorbei, demütige Liebkosung! Wenn siegerade entschwinden wollte, fühlte er sie ganz: die holdenBrüste, die schräg gleitende Falte, von der Schulter abwärts,ihren kleinen Fuß, den er wie ein Stück warmesElfenbein zwischen seinen Händen rollte, und ihr Duft,unvergeßlich war ihr Duft zu Anfang ihrer Liebeszeit,scharf und sommerlich zugleich, ein fremdes Gewürz, dassie mit ihrer Unschuld dahingab, das ihn dann nie mehrzu Tränen überwältigte. Aber wenn sie wiederkehrte, etwasblieb auf immer verloren.

So erlebte er, daß nicht nur das Sterbliche am Menschenverwesen konnte, sondern auch das Unsterbliche, die glühendeFlamme, Duft von Seele zu Seele, die letzte, die einzigeWirklichkeit, wie ein Pfeilerbogen gespannt über zweiSäulen, unerschütterlich dem Blick, aber nicht der Zeit!

An manchen Tagen verblaßte auch das stärkste bei ihnenbeiden, das letzte kam nicht, war nicht zu erreichen, mitden Spitzen der Zähne nicht zu erraffen.

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